El-G: Das Ich als Text in der Fremde

Ein  Flimmern im spannenden Hintergrundrauschen des Weltgeplauders.
Niemand ist gemeint.

Neue Literatur, Prosa, Lyrik, Roman, Online Kunst, verbale Performance, Exposé, Epimetheisch, Erfundene erlogene ausgedachte Geschichten.

Farbwechsel (setzt Cookie)

Da ist kein Tiger in ihrer Taiga

Für Silvie

Sie liegt nebenan. Und schläft.

Bei ihrem rührenden Versuch zu tanzen, war es schon offensichtlich, sie hatte bereits zu viel. Im Zentrum des kollektiven Rausches war ihre physische Resonanz nicht zu übersehen, raumgreifend, torkelnde Ausfallschritte, ihr Körper eine abendfüllende Stotterbremse. Jedenfalls ist sie an diesem Abend nicht gefallen, also wusste sie wohl noch, was sie tat. Bald wusste ich, dass es hier heute nicht allzu viel zu sehen geben würde, also wurde ich dankbarer Zaungast ihrer verwaisten Achterbahn. Vielleicht war es das schwarze Spitzenoberteil mit den sparsam gerüschten Armen, die sie eratisch in die Luft warf. Vielleicht war es ihr geschäftiger Begleiter, der wie ein mächtiger Jupiter um sie kreiste und sie von allen Zusammenstößen und Antanzungen bewahrte. Jedenfalls war es eine Show - und mehr konnte ich nicht erwarten. Bevor ich in die Verlegenheit kam, weiteren Eintritt zahlen zu müssen, gab ich meinen Logeplatz auf und drängelte mich den langen Weg durch zum Tresen. Ich bestellte ein Bier und einen Wodka und als die Drinks endlich vor mir standen, stand sie keine zwei Meter neben mir. Der Tresen war unbemerkt leerer geworden, anscheinend war Jupiter auch nicht weit und nahm seinen Job weiterhin sehr ernst.

Schwer zu sagen, welcher Teil meiner inneren Abwesenheit das Folgende ermöglichte, aber als sich unsere Blicke trafen, hielt ich ihrem, von einem irren Gedanken geführt, stand und vermochte ein kleines Lächeln in den Augenblick einzuschmuggeln. Ich nahm vorsichtig den Wodka. Sie nahm ihr Bier und prostete mir zu.
»Und was willst du trinken?«
»Hab schon was«, meinte sie und wedelte leicht mit ihrer Bierflasche.
Ich deutete auf das Pinchen vor mir. »Ich habe nicht gefragt, was du hast, sondern was du willst?«
Ihr Kopf neigte sich leicht und sie sagte, »bevor du mir nicht die Hand gibst, werde ich keinen Shot mit dir trinken«. Also nahm ich ihre Hand. Hielt sie. Fest. Der Schmerz verspätete sich in ihrem Bewustsein und ließ sie ihren Griff lockern, ohne sich von meinem zu lösen. »Ja, das ist Macht. Mit dir trinke ich einen.« Innerlich entsetzt war es nicht einfach, ein von Scham getriggertes Lachen nicht nach draußen zu lassen. Das ist keine Macht, dachte ich, das ist plumpe Gewalt. Es ist bemerkenswert, wie ein Mensch so viel Energie haben kann und gleichzeitig so schwach. Sie nahm einen Jägermeister.

Da sind diese Begegnungen, bei denen sich eines vollkommen öffnet und Dinge von sich selbst erzählt, die zuvor niemals ausgesprochen wurden. Es mag der richtige Zeitpunkt sein, ein stimmiges Gefühl. Oder ein notwendiger Zwang, sich der Welt zu offenbaren, um wieder ein Teil von ihr zu sein, der aber trotzdem heimlich bleiben will in der singulären Kollision mit einem fremden Versehen.
Dann gibt es selten diese fremden Begegnungen, wenn das Sagen vornehm den Blick senkt und dennoch aufrecht bleibt, während das Schweigen uns einlädt, den ersehnten Garten einer geteilten Zeit zu erobern. Hier begegnen wir in der Gegenwart des anderen dem Fremden in uns selbst. Sie war in diesem Moment fremd und das war mir auf das Angenehmste vertraut. So standen wir zu viert, unterhielten uns mit natürlichen Pausen und mit fortschreitender Zeit zogen sich zwei zurück, bis nur noch sie bei mir stand. Oder ich bei ihr. Auch Jupiter war im Abfluss des Abends mit den anderen Gästen verschwunden. Es war schon recht geleert, als ich selbstverständlich zu ihr sagte, »lass uns gehen«.
»Ja.«

 

Zu Fuß ist es ein langer Weg zurück von diesem Klub, besonders wenn es regnet. Manche Menschen fahren oft Taxi. Ich werde oft beinahe von Taxis überfahren. In dieser Nacht existierten keine Taxis. Mir war kalt und wir waren durchnässt, als wir hier ankamen.
Ich sagte zu ihr »zieh dich aus«. Sie schaute mich reglos an, es gab keine Frage in ihrem Blick. Dann tat sie, was ihr gesagt wurde, vollständig.
Auf dem linken Arm ist eine gewachsene Signatur vergraben, das rote Zebra der fehlenden Selbstliebe. Und am rechten Handgelenk beginnt ihre einzige Tätowierung, breitet sich über den Arm aus, an der Schulter vorbei, bis zum Bauch. Hingeworfene Silhouetten von nackten Winterbäumen, ungeschmückt und bereit, gefällt zu werden. Das Tattoo ist noch nicht fertig. Es sieht aus wie die winterliche Taiga. Der frischeste Stich ist die Kontur eines Nadelbaumes neben ihrem Nabel. Er glänzt vom Sprühpflaster. Ich verstehe es nicht. Den weißen Tiger habe ich auch nicht gefunden. Es ist irgendwie traurig. Und schön.
Das stoppelige Schamhaar verriet, dass sie nicht damit gerechnet hatte, diese Nacht vor jemandem nackt zu sein.  
Ich gab ihr einen Kapu und eine Spielhose. »Zieh das an, bitte.« Auch das tat sie.

Der Kuss auf dem Sofa war schwierig. Sie öffnete ihre Lippen, doch da war nichts, was sie noch wollte. Mir ging es genau so. »Schlaf jetzt.« Sie legte sich zur Seite und fast begann sie sofort mit einem niedlichen Schnarchkonzert.
Ich legte eine Decke über sie. Stellte ein Glas Wasser auf den Tisch, eine Flasche Wasser daneben. Sie raucht nicht, sonst hätte ich zu den zwei Aspirin noch eine Zigarette gelegt.
Sie liegt nebenan. Und schläft.
Ich denke, sie wird fort sein, wenn ich erwache. Scheiße, ich kenne nicht einmal ihren Namen.

 

Meine Wohnungstür schließt ab einer bestimmten Außentemperatur nicht mehr, sie muss von innen verschlossen werden, springt sonst immer wieder auf, widerspenstig und unfähig. Dieses alte Haus, das sich in der Kälte krümmt.

So gegen Mittag höre ich, wie sie mehrfach versucht, die Tür hinter sich zu schließen. Jeder Versuch wird lauter, bollert durch den Hausflur, in die Wohnung und wieder zurück, ein aus der Zeit gefallenes Silvester.

Nach ein paar Sekunden Stille stehe ich auf, weil ich vermute, sie ist inzwischen fort.
Die Wohnungstür ist leicht geöffnet und ich kann sehen, dass sie noch auf der ersten Treppenstufe steht. Sie fuchtelt ganz leicht mit den Händen im Selbstgespräch.

»Hallo.«
Sie dreht sich um, sieht ziemlich übernächtigt aus, sicherlich noch nicht nüchtern. Ich möchte nicht wissen, wie ich aussehe.
»Ich kriege die Tür nicht zu.« Klagt sie mich an.
»Ja, das liegt an der Tür.« Ich glaube, sie schaut etwas grummelig. »Die Tür ist irgendwie verzogen«, entschuldige ich weiter. »Kaffee?«
Sie überlegt kurz, nickt ein »hm« und kommt wieder rein. Wir gehen in die Küche. Ihre Jacke lässt sie an.
Ich setze Wasser auf, stelle ihr ein Glas Orangensaft und eine kleine Packung gesalzener Kekse hin.
Sie nimmt den Saft, rührt die Kekse aber nicht an. Bis ich die Packung öffne und selbst zwei esse. Dann greift sie immer zu, wenn ich mit dem Rücken zu ihr stehe.

Den Kaffee trinkt sie schwarz und schnell. Wir sprechen nicht viel. »Sind deine Klamotten trocken?«
»Geht so.« Ihre Chucks sehen ungemütlich feucht aus.
Sie fragt nach dem Weg zum Bahnhof. Zwei Straßen weiter ist das Wahrzeichen der Stadt, von dort aus weiß sie Bescheid.

Als sie geht, umarmen wir uns kurz in der Tür, was mich doch überrascht. Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Vielleicht meint sie mich auch gar nicht. Ich frage nicht. Ich antworte nicht. Sie stopft ihre Hände in die Jackentaschen. »Mach's gut.«
»Du auch.«
»Nächstes Mal.«
Sobald sie am Treppenabsatz verschwindet, verschließe ich die Tür und verstehe, ich bin kein Tiger. Nichtmal ein Kätzchen. Und ich kann mich nicht daran erinnern, sie auch nur einmal mit einem Smartfon in der Hand gesehen zu haben. Sie ist die Tigerin und die Taiga.

Später sehe ich, dass die Aspirin weg sind inklusive Plastikverpackung. Ihren Namen kenne ich noch immer nicht, das ist ok. Auch einen Kapu habe ich weniger. Auch das ist ok, es war mein Bester.