El-G: Das Ich als Text in der Fremde

Ein  Flimmern im spannenden Hintergrundrauschen des Weltgeplauders.
Niemand ist gemeint.

Neue Literatur, Prosa, Lyrik, Roman, Online Kunst, verbale Performance, Exposé, Epimetheisch, Erfundene erlogene ausgedachte Geschichten.

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Das Ich als Text in der Fremde

Exposé

 

»Ein Text ist nie fertig, er hat einen Anfang
und irgendwann hat die Autorschaft ein Ende.«


Textarbeit ist Prozess, ist fortlaufende Veränderung, sowohl des Textes als auch seiner Rezeption. Sicherlich gibt es Texte und Geschichten, die sich in der Wahrnehmung auch nach langer Zeit nicht verändern und die gleichen Gedanken und Gefühle hervorrufen, wie bei der initialen Begegnung. Wahrscheinlich gibt es dann einen persönlichen, vielleicht sogar einen intimen Bezug in der Erinnerung, der unabhängig vom Text ist. Die geläufigste Erfahrung ist wohl, dass ein Text nicht mehr das Gleiche auslöst, wie bei der ersten Lektüre - selten wird der Text oder die rezeptive Resonanz besser.

Klassisch war von Seiten der Autorschaft ein Text abgeschlossen, wenn er in die Welt gebracht, veröffentlicht oder vielleicht sogar gedruckt wurde. Das Internet ist für einige Jahre, eventuell sogar ein paar Jahrzehnte eine leicht zugängliche Möglichkeit, ein allgegenwärtiger Ort, an dem ein Text wiedergefunden werden kann und dort nicht nur in der Wahrnehmung sondern als Wortsammlung selbst modifiziert ist.
Manchmal scheint ein Text so gelungen, dass er selbst gedanklich unangetastet bleibt. Doch irgendwann ist ein Moment gekommen, in dem eine Nuance verändert werden will: Vielleicht möchte ein Umbruch umziehen oder ein anderer zieht ein oder aus. Meistens ist es einfach nur ein Wort weniger, als wolle sich der Text, ein Gedanke, ein Wort destillieren, raffinieren, bis es schließlich vaporisiert und nur noch in der phonetischen Patina erahnbar ist. Vielleicht ist auch einfach bei der initialen Arbeit ein Gedanke oder ein Anliegen so dominant, dass die Nebenschauplätze vernachlässigt werden (müssen) und sich erst später in den Fokus schleichen können, wenn bspw. aus dem Frühstadium eines Partikels oder einer Agency ein Kontrapunkt gewachsen ist.

Diese Webseite soll ein Versuch, ein Experiment sein, wie sich Texte scheinbar selbständig verändern - wollen? Möglicherweise wäre es besser, das ganze als eine Art Wiki zu gestalten, bei dem alle Veränderungen und Korrekturen rekursiv bis zum Anfang verfolgt werden könnten. Doch die primäre Idee, das vornehmste Anliegen besteht darin, dass ein Text genau in der Situation funktioniert, in der er rezipiert wird - schließlich wird es passieren, dass jemand einen vielfach veränderten Text zum ersten Mal ließt und ihn so mag, wie er gerade ist. Wozu dann eine rückblickende Enttäuschung? Von der ernsthaften Komparatistik könnte jetzt eine Kreuzigung gewünscht werden. Aus dieser Perspektive - und nur aus dieser - zu recht.
Aber ich sage einfach: Die Versuchsanordnung steht.

 

Die Gegenwart ist ungerecht

denn immer unvollständig

Da dies die einzige Epoche ist, in der ich lebe und jemals gelebt haben werde, ist ein authentischer Vergleich mit anderen Epochen natürlich schwierig. Nein, sinnführend ist er nicht möglich. Trotzdem bleibt die Frage, ob Literatur jetzt noch eine Aufgabe haben kann und haben soll, jenseits von sogenannter belle tristik und nerviger l'art pour moi oder selbstgefälliger Artistik. Altmodische und niederschwellige Zerstreuung gibt es genug: Musik ist immer und überall mit Leichtigkeit zu haben, die Visualität und Erzählmöglichkeiten des Films sind beeindruckend bis atemberaubend und seit vielen Jahrzehnten ist die Werbung als zischelnder Imperativ der kompetitiven Akkumulation unser aller Sinnstifter schlechthin und sagt mir, wer ich wie zu sein habe.

Es mag Menschen geben, die unabhängig von Situation und Kontext im Denken und Handeln immer konsistent oder selbstidentisch sind, monolithisch sozusagen. Ich kenne niemanden. Vielmehr versuchen Menschen eine verlässliche und vorhersehbare Selbstähnlichkeit zu entwickeln, eine Vertrauensbasis und Berechnbarkeit für sich und ihre Umwelt. Überraschend wird begrüßt, solange es keinen negativen Impakt hat. Impulsiv wird weitgehend toleriert, da es als Ausdruck von Leidenschaft bewertet werden kann. Arbiträr wird erduldet, sofern es von einer übergeordneten Person oder Autorität performt wird. Alles andere ist irrational, bestenfalls eratisch und wird als unerwünscht bekämpft. Das Unvorhersehbare löst umso mehr Aversion und Furcht aus, je größer die innere Unsicherheit und der situative Gestaltungsmangel ist.

Noch nie zuvor hatte die menschliche Mobilität das aktuelle Ausmaß angenommen. Ob es die individuellen Reisemöglichkeiten sind, das tägliche Pendeln zur Erwerbstselle oder die Notwendigkeit der Flucht.1 Auch daraus folgend ist für eine nicht geringe Anzahl von Leuten der Zustand von Heimat und Familie merkwürdig unvertraut. Es sind beobachtbare Begriffe wie Baumschwamm oder Gravitationslinse. Die Eigenschaften und Fähigkeiten dieser Worte, die Umwelt zu verändern oder anders zu begreifen, sind auch in ihrer gelebten Abwesenheit äußerst interessant. Tatsächlich sind sie scheinbar nicht etwas, das eines hat oder braucht; eher ein Verlangen nach Einhegung, vielleicht auch nur nach einer Pause.
Manchmal verlässt eines für Sekunden einen Raum und bei der Rückkehr hat sich dieser und die anwesenden Personen verändert, aber nicht in einer gruseligen Art. Wenn diese und viele andere Begriffe und Orte fremd sind, muss gefragt werden, was das Andere oder Fremde dort ist.

In diesem Sinne ist diese Veranstaltung kein Versuch eines Selbstverstehens oder gar einer Selbstfindung. Die Suche nach einem Selbst kann als einer der größten Irrtümer angesehen werden, denn es ist immer schon alles anwesend - außer der Fähigkeit alles gleichzeitig wahrzunehmen - und die Annahme, es gäbe nur ein einziges echtes Selbst, ist zutiefst traurig und auf eine verstümmelnde Weise hilflos und selbstgefällig zugleich, eine eskapistische Notwehr-Attitüde.
Allerdings hat mich die intime Niederschrift einer punktuellen Verfasstheit nicht selten im Nachhinein verstört. Und neugierig gemacht.

 

Die These

Literatur ist eine Wirklichkeit erkennen
und nicht die Wahrheit verkünden

Es existiert ein alltägliches Begreifen, dass die Veränderung - das einzig Unveränderliche in diesem Universum ist, dass sich alles immerzu verändert - und das daraus ergebende Fremde im Inneren und Äußeren der Normalzustand ist. Die Erkundung der Kulturtechnik, dies aktiv wahrzunehemen und ggf. angstfrei damit umzugehen, könnte eine Möglichkeit sein, in dieser Welt nicht zu verkümmern. Ich denke, das kann Literatur darstellen und soll mit allen mir möglichen sprachlichen Facetten und Konsequenzen gezeigt werden. Also gilt:

 

Das Ich = eine punktuelle Verfasstheit
als Text = was die Verfasstheit in den Kommunikatiosraum entlässt
in der Fremde = eine Rezeption

 

 

Anmerkungen

  1. Es ist peinlich mitanzusehen, wie viele Menschen in Deutschland über Flüchtende denken und sprechen. Die Bremer Stadtmusikanten: »Etwas besseres als den Tod finden wir überall« ist ein deutsches Märchen - aber vielleicht eben nur das, ein Märchen.