El-G: Das Ich als Text in der Fremde

Ein  Flimmern im spannenden Hintergrundrauschen des Weltgeplauders.
Niemand ist gemeint.

Neue Literatur, Prosa, Lyrik, Roman, Online Kunst, verbale Performance, Exposé, Epimetheisch, Erfundene erlogene ausgedachte Geschichten.

Farbwechsel (setzt Cookie)

»Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern weiß,
wird auch in einer großen Menschenmenge
niemals wirklich alleine sein können.«

Michel Butor

»Jelena«

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus; so sagt man jedenfalls. Sonnig sind diese Tage, hell und ruhig und nirgends ist ein schattiges Plätzchen, wo man ein wenig Schutz vor dieser fortdauernden Heiterkeit finden könnte. Nun, das läßt ja einiges hoffen – oder auch nicht.

Es ist eine Eigenschaft der Städte, dass jede etwas eigenes schafft. Doch ist ihnen auch eigen, dass es keine mehr schafft, richtig dunkel zu werden. Wenn der Himmel nachts von tiefhängenden Wolken bedeckt ist, liegt ein dunkelroter Teppich samten über der Stadt.
In ihren Wohnungen lässt sie die Tage vorüberziehen, die Nächte sie entrücken, überschaut die Dächer und ignoriert ihre Biolumineszenz. Nichts weiter. Keine tiefere Bedeutung, keine Fragen, keine Zweifel über die Welt da draußen.

Manchmal will sich die Stadt nicht fotografieren lassen. Manchmal ist heute, der heutige Tag wollte sich nicht fotografieren lassen. Es fehlte das eine richtige Licht - wie schon so lange. Die Tage passieren, in Gesichtern, in Autos, in Apartments, in Halbkreisen der Sonne, in Nächten manchmal der Mond, unbeeindruckt, dass dort jemand wohnt und weint.

 

 

Im Drehstuhl saß sie inmitten reizloser Nachtspeicherluft und rollte in Halbkreisen durch die Peripherie ihrer Wahrnehmung, mit einem Kopfhörerkabel an die Stereoanlage angeleint. Jelena war wie Puder, durch den die sie umgebenen Menschen erlesener schienen. Sie war der Schnee, den andere schnieften, an dem sie um Erlösung schlecken, wenn sie ihre Gesichter verstecken, an vielen Tagen und Nächten in ihrem Schoß: Lass mich bei dir liegen, lass mich in dir wohnen, bis der Schnee in mir geschmolzen ist. Und dann bedanke ich mich mit Eiswasser.

Manchmal schaute ich sie genauer an, ob sie wirklich Hände hatte, so wenig nahm sie.

An diesem Abend war Jelenas Strahlen neu und abjekt. Es lag als Memento, als blutroter Teppich pelzig über ihrem Gesicht.
»Du weißt, dass es sich manchmal seltsam anfühlt«, sagte sie. »Ich wollte mich erinnern, wie ich mal werden würde. Ich denke es nicht mehr. Und ich bin mir nie begegnet.«
Sie lächelte nicht.

 

 

Jelena mag sterbende Orte. Also sitzt sie oft hier und erzählt Seite für Seite ihre Geschichte. Doch immer, wenn ich aufblicke und in Richtung ihrer Stimme schaue, ist sie schon wieder fort. Nachher warte ich auf morgen, bis sie wieder bei mir ist und sich zu mir spricht – man kann sich auf sie verlassen und das ist gut so. Sie läßt mich nicht im Stich, sie hinterläßt keinen Stirnabdruck am Fenster.

Manchmal sitzt sie nur in der Ecke und macht Geräusche, wie ein verendender Wal oder das ächzende Knacken einer frierenden Holztür in einer Novembernacht. Das nächste Mal tanzt sie langsam durch die Wohnung und summt ein seltsames Lied. Ich glaube, sie dann weinen zu hören, und frage mich, ob auch das Licht ein Echo hat.

Gestern abend stand sie hinter mir und blies mir in den Nacken. Ich wünschte kurz, sie hätte ihn geküßt – doch sowas macht sie nicht, so wie sie mich niemals berührt. Sie lügt nie und das ist kaum zu bedauern. Bevor sie ging, fragte sie, was Sehnsucht sei. Sie sagte, sie wisse es nicht.

Inzwischen kennt sie meine Eltern. Und ihre auch. Gelegentlich bringt sie Freunde mit und ich bin glücklich, dass sie hier sind. Dann bin ich nicht alleine und es ist ein perfekter Tag, auch wenn ich sie niemals sehen kann. Ihre Gegenwart fällt auf mich, doch sie ist leicht zu tragen.

Es scheint, als sei sie auf dem Weg. Also setze ich mich bald an den Tisch, höre ihr zu und schreibe auf, was sie heute zu berichten hat.
Ich freue mich.